„Und der Menschensohn wird senden seine Engel mit hellen Posaunen ...“
(Matthäus 24, 31a)
Was in diesem Wort so einladend friedlich klingt, ist eher die Ausnahme in der Geschichte der Posaune. In der Bibel ist ursprünglich das Schofar, das aus dem Horn des Widders gefertigte Instrument gemeint, das Luther in seiner Übersetzung der Posaune gleichstellt. Der schauerliche Klang des Schofars diente überwiegend kriegerischen Zwecken, wie die Erstürmung der Stadt Jericho mit Hilfe der „Posaunen“ zeigt (Josua 6, 4-20). Auch bei der Verkündung des Jüngsten Gerichtes (Offenbarung 8) dient der unheimliche Klang der Posaunen einem dramatischen Ereignis. Die „Pauken und Trompeten“ der militärischen Tradition übergehen wir hier. Einen neuen Ton schlug Johannes Kuhlo (1856-1941) an, der als Pfarrer und Mitarbeiter Bodelschwinghs in Bethel die kirchliche Bewegung der Posaunenchöre begründete und mit der Tonlage „klingend B“ die militärische C-Tonlage zivilisierte. Kuhlo sah in den Posaunenchören eine Möglichkeit, eine kirchliche Jugend- und Männerarbeit einzurichten. Weibliche Bläser wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg zögerlich zugelassen. Kuhlo ging es nicht darum, eine elitäre Musikausübung zu fördern, sondern die Posaunenchöre entstanden aus dem „Fußvolk“ der Gemeinden für die musikalische Gestaltung der Gottesdienste und Kirchenfeste. Im Mittelpunkt stand die Begleitung des Gemeindegesanges.
So verwundert es nicht, dass auch der heutige Bad Nenndorfer Posaunenchor, der am 21. Januar 1913 in Kreuzriehe als eigenständiger Verein gegründet wurde, am 21. Dezember 1913 folgende Mitglieder in den Vorstand wählte: Als Präses den Landwirt Konrad Schröder aus Waltringhausen, als Dirigenten den Maurermeister Konrad Tegtmeier aus Kreuzriehe, als Vizedirigenten den Schneidermeister Christoph Tegtmeier aus Waltringhausen, als Kassierer den Tischlergesellen Wilhelm Scheibe aus Kreuzriehe, als Schriftführer den Maurergesellen Christoph Heringslack aus Waltrighausen, als Ordner den Schneidergesellen Konrad Tegtmeier aus Kreuzriehe. Weitere Gründungsmitglieder waren Heinrich Lages, C. Tegtmeier, W. Kölling und Wilhelm Schröder. Der Posaunenchor war also ursprünglich eine Gründung der um den Kirchort Groß-Nenndorf gelegenen Dorfgemeinden. Bemerkbar machte sich dabei wohl der Einfluss von Ludwig Harms (1808-1865) und seiner auch im Nenndorfer Raum wirksamen Erweckungsbewegung, die in Hermannsburg bis heute ihr Zentrum hat. Ebenso wie Harms stammte Kuhlo aus der neupietistischen Erweckungsbewegung. Auch Harms wählte seine Missionarsschüler bevorzugt unter Handwerkern und Bauern aus. Die Versammlungen und alle Übungsabende des Kreuzrieher Posaunenchores waren deshalb eingebunden in die damals üblichen Frömmigkeitsformen. Sie begannen und endeten immer, mindestens bis zum Zweiten Weltkrieg, mit einem gemeinsam gespielten Choral und einem Gebet.
Die Grundlage des „Posaunenchores Kreuzriehe“ bildeten die dreißig Paragraphen der Statuten, die dem Protokollbuch, das sorgfältig in gestochener Sütterlinschrift verfasst wurde, vorgeheftet sind. Mitglieder konnten nur „Jünglinge und Männer“ werden, die „von unbescholtenem christlichem Rufe(sind und) welche durch Wort und Wandel bezeugen, dass sie dem Taufbunde gemäß mit der Welt nicht in dasselbe unordentliche und wüste Wesen laufen wollen.“ Vorstandsbestellung, Beitragszahlungen, Eintritt und Ausscheiden, Behandlung der Instrumente, alles ist nach Vereinsrecht geregelt. In §22 wird unter der Überschrift „Zucht und Ordnung“ auf Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit verwiesen, aber auch verlangt, dass „der Besuch von öffentlichen Lustbarkeiten, an welchen die gläubigen Mitglieder der Gemeinde Anstoß nehmen, nicht gestattet (ist), ebenso ein anstoßerregender Wirtshausbesuch. Wer sich nicht „ordentlich“ benahm, konnte auf Zeit oder ganz ausgeschlossen werden. Die Wiederzulassung war nach „geziemender Sühne und Beilegung des Ärgernisses gestattet“. Der Erziehungsauftrag wurde offenbar ernst genommen: Ausschlüsse auf Zeit und Wiederzulassungen sind im Protokollbuch vermerkt. Deutlich zu spüren ist die Abgrenzung gegenüber der „Welt“, die vor allem als Verführung zu einem nichtchristlichen Lebenswandel wahrgenommen wurde.
Die Anfänge erforderten, zumal aus heutiger Sicht, großen Enthusiasmus. Vor der Vereinsgründung fanden die Proben in Beckedorf und Lyhren statt. Beladen mit seinem Instrument fuhr jeder Bläser bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad nach einer arbeitsreichen Woche zu den Proben und zu den Gottesdiensten nach Groß-Nenndorf, wenn der Chor beteiligt war. Meistens wurde sonnabends am Nachmittag geübt oder sonntags nach dem Gottesdienst. Immer war man mit dem Fahrrad unterwegs. Im Winter 1948/49 traf man sich zum Üben in der Tischlerei Lages in Kreuzriehe, in der geheizt werden konnte. Erst 1961 erhielt der Chor im Pfarrhaus in Nenndorf einen eigenen Schrank, so dass die Instrumente und Notenbücher nicht dauernd hin und her transportiert werden mussten. Die gemeinsamen Erlebnisse über viele Jahre haben ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen und lebenslange Freundschaften begründet, woraus ein hohes Maß an Verantwortung für das Gedeihen des Chores erwachsen ist und erwächst.
Während des Ersten Weltkrieges fanden keine Jahresversammlungen statt, das Wirken des Chores war vermutlich nur recht eingeschränkt möglich, wenn überhaupt. Nach dem Krieg, seit 1926, firmierte der Chor unter der Bezeichnung „Posaunenchor der Gemeinde Groß-Nenndorf“.Im Protokoll des Jahres 1932 werden zwölf aktive Mitglieder aufgeführt. Irritationen rief eine Verfügung des nationalsozialistischen Regierungspräsidenten hervor, die Lehrer bei der Leitung kirchlicher Chöre einschränkte. Außerdem wechselte der Vorsitz im Verein. Ab 1936 ist immer der Pastor der Gemeinde 1. Vorsitzender, zuerst Pastor Köhler. Die Feier des 25jährigen Jubiläums wurde geplant, fiel aber den Zeitumständen zum Opfer. Auf den Druck der nationalsozialistischen Behörden hingegen wurde erkennbar reagiert. Im Protokoll des Jahres 1936 steht folgender Beschluss: „Zwecks biblischer Vertiefung und gemeinsamer Erbauung“ sollten Monatsversammlungen in den Häusern der Mitglieder abgehalten werden. Geburtstage sollten gemeinsam gefeiert werden, um „das gemeinschaftliche und brüderliche Moment“ im Chor zu betonen. Dahinter stand die „Überzeugung, dass wir in der weltanschaulichen Not der Gegenwart gegenseitige Stärkung und Förderung nötig haben.“ Immer noch beendeten Choral und Gebet die Versammlung.
Der Zweite Weltkrieg ließ den Verein zehn Jahre lang ruhen. Im Februar 1948 traf man sich wieder, gedachte der im Krieg umgekommenen Mitglieder, brachte die Statuten in Erinnerung, und Pastor Köhler übergab den Vorsitz seinem Nachfolger, Pastor Klatt. Statt des ausgefallenen 25jährigen Jubiläums feierte man das 35jährige zusammen mit dem Kreisposaunenfest am 6. Juni 1948 mit einem großen Festgottesdienst in Bad Nenndorf und mit mehreren Posaunenchören aus der Nachbarschaft: Rodenberg, Lyhren, Beckedorf und Hattendorf. Die wieder aufgenommenen Monatsversammlungen sollten auf Wunsch von Pastor Klatt zu „Männerabenden ausgebaut werden.“ Daraus ist auf Dauer nichts geworden. Am Ende des Jahres war dann eine Grundsatzdebatte der Führungsriege nötig, da offenbar eine Reihe von Mitgliedern nicht mehr bereit war, sich den Statuten zu unterwerfen, weshalb man erwog, neue Mitglieder die Statuten nicht mehr unterschreiben zu lassen. Bis dahin musste jedes neue Mitglied sich durch seine Unterschrift verpflichten, die Vorschriften einzuhalten. Die neue, liberalere Gesellschaftsauffassung der Bundesrepublik Deutschland drang auch in die Räume der Dörfer ein. Zwischen 1951 und 1961 sind keine Protokolle erhalten. Am 11. Juli 1961 hat der Chor dreizehn aktive Bläser. Danach endet das Protokollbuch, der Verein hatte den Vereinsstatus aufgegeben und war Teil der St.Godehardi-Gemeinde Bad Nenndorf geworden.
Der Posaunenchor hat die Geschichte der Gemeinde in den vergangenen hundert Jahren bei allen Festen und bei unzähligen Gottesdiensten begleitet. Besondere Erinnerungen der Chormitglieder sind verknüpft mit dem Jahresfest des kurhessischen Kirchengesangvereins in Kassel (1927), der Einweihung der erstmals umgebauten Orgel (1931), der erstmals in Nenndorf gefeierten Goldenen Konfirmation (1933) und der Martin-Luther-Gedenkfeier zum 450. Geburtstag des Reformators (1933). Nach dem Krieg ragten als Veranstaltungen heraus die Jubiläumsgeburtstage der St.Godehardi-Kirche: 100 Jahre(1953), 125 Jahre(1978), 150 Jahre (2003), die Einweihung des Hauses der Begegnung (1978) und die Einweihung der renovierten Orgel (2009).
Mit seinen Leitern hatte der Chor Glück. Die meisten blieben lange im Amt und sorgten, abgesehen von kurzen Intervallen, für Kontinuität. Konrad Tegtmeier war der erste, ab 1921übernahm der Lehrer Wilhelm Görling das Kommando. Nach seiner Versetzung leitete der Diakon Heinrich Heringslack den Chor (1935-1951), dann übernahm der Kantor Hermann Sölter die musikalische Verantwortung (1952-1963); ihn löste der Kantor Adolf-Heinrich Krücke ab (1963-1966). Am längsten führte der Kantor Klaus Peter Rohde den Dirigentenstab (1966-2000). Dann gab es mit Julia Preuß die erste und bisher einzige Dirigentin (2002-2007), seitdem ist Guido Bleidistel ihr Nachfolger. Es treffen sich heute wieder zwölf Bläser wie schon bei der Gründung, einige sind seit 1948 dabei, also seit über fünfzig Jahren. So ist die größte Sorge heute, Jüngere für den Posaunenchor zu begeistern, damit die Älteren nicht allein die Verantwortung tragen müssen. Aber nun wird erst einmal der hundertste Geburtstag gefeiert, durchaus in dem Sinn, den der zweite Teil des Zitats aus der Überschrift ausdrückt: „…und sie werden sammeln seine Auserwählten von den vier Winden, von einem Ende des Himmels zu dem andern“ (Matthäus 24, 31b). Denn die Gemeinde und der Gottesdienst sind trotz aller Veränderungen bis heute die Wirkungsfelder des Posaunenchores der Gemeinde Bad Nenndorf geblieben.
Eckart Wossidlo